Assyriologie und Hethitologie
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Tell Beydar [abgeschlossen]

Frühe Stadtgeschichte(n)

Landkarte Syrien und ObermesopotamienDas Zusammenleben größerer Gruppen von Menschen in Städten, das uns heute ganz selbstverständlich vorkommt, ist in der Geschichte erstmals im Vorderen Orient erprobt worden. Die frühesten Städte entstanden im südlichen Mesopotamien im 4. Jahrtausend v. Chr. Vermutlich durch diese Städtegründungen angeregt, kam es im frühen 3. Jahrtausend im nördlichen Zweistromland zu einer sehr ausgedehnten Urbanisation. Diese Landschaft, die heute im Nordiraq, in Nordost-Syrien und der Südost-Türkei liegt, war vor 4500 Jahren dichter und städtischer besiedelt als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt vor dem Ende des 20. nachchristlichen Jahrhunderts. (Vergrößerung der Abbildung)

Für das Zusammenleben vieler Individuen in den Städten, für das Verhältnis zwischen zentralen Institutionen und den einzelnen Haushalten und für die Beziehung zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung mussten Regeln entwickelt werden. Die frühe urbane Kultur Nordmesopotamiens erscheint für die Untersuchung dieser sozialen Organisationsformen besonders interessant, da sie auf wenige Jahrhunderte beschränkt blieb. Am Ende des 3. Jahrtausends geriet sie in eine Krise: Innerhalb weniger Generationen wurden die meisten Städte aufgegeben und das Land überwiegend von Nomaden genutzt, die in den schriftlichen und archäologischen Quellen – wenn überhaupt – nur indirekt zu erfassen sind.

Frühe syrische Schriftkultur

Diese nordmesopotamische Stadtkultur war bis vor kurzem allein durch Grabungsbefunde bekannt. Doch gerade für die ältesten historischen Perioden Syriens hat sich die Situation grundlegend geändert, als ab dem Jahr 1975 umfangreiche Tontafelarchive im Palast von Ebla (südlich von Aleppo gelegen) gefunden wurden. Die noch andauernde Bearbeitung und Publikation dieser Texte führt zu einem immer detaillierteren Bild der ausgehenden frühdynastischen Zeit (nach gängiger Chronologie etwa das 24. Jahrhundert v. Chr.). Dem der Keilschrift eigenen Schreibmaterial Ton ist es zu verdanken, dass das Tausende Tafeln umfassende Archiv von Ebla beim Brand des Palastes nicht vernichtet wurde und die Zeiten in der Erde überdauern konnte. Innersyrien tritt damit als historischer Raum schon im 3. Jahrtausend neben das im heutigen Irak gelegene südliche Mesopotamien, wo man um 3000 v. Chr. die Keilschrift entwickelt hatte.

Unter anderem erfahren wir aus den Ebla-Urkunden, dass in der Stadt Nagar eine befreundete Dynastie herrschte, der Ebla sogar durch dynastische Heirat verbunden war. Nagar konnte als das etwa 400 km von Ebla entfernte Tell Brak identifiziert werden, die wohl wichtigste Siedlung dieser Zeit im Einzugsgebiet des Habur, eines Euphrat-Nebenflusses. Den dortigen Grabungen blieben bisher nennenswerte Schriftfunde versagt. Doch zur Überraschung der Fachwelt entdeckten Archäologen auf dem kleineren Ruinenhügel Tell Beydar, etwa 40 km westlich von Nagar gelegen, im Jahr 1993 eine größere Anzahl von Keilschrifttexten aus dieser Zeit.

Damit verfügt man erstmalig über Schriftzeugnisse aus dieser Kultur, deren Überreste die Vorderasiatische Archäologie zunehmend fasziniert hat. Dieser Fund bedeutet auch einen wichtigen Schritt zum Verständnis der Kultur. Im Vorderen Orient wird einem diese Tatsache immer wieder vor Augen geführt, wenn Neufunde von Keilschrifttexten auf einmal Einblick in Regionen und Perioden gewähren, für die das Wissen zuvor allein auf archäologischen Funden und Befunden beruht hatte.

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Das Projekt Tell Beydar

Der Tell Beydar im Nordosten Syriens bietet besonders gute Voraussetzungen für die Erforschung dieser frühen Stadtkultur. Mit ca. 10 ha Siedlungsfläche weist der Ruinenhügel („Tell“) eine für die Region mittlere Größe auf. Der Ort bot sich für eine auf das 3. Jahrtausend v. Chr. konzentrierte Ausgrabung an, da er nach der Aufgabe der frühen Besiedlung nur im 2. Jh. v. Chr. (in seleukidisch/parthischer Zeit) noch einmal kurz besiedelt war. Die Schichten des 3. Jahrtausends sind daher ohne großen Aufwand zu erreichen.

Hier arbeitet seit 1992 eine europäisch-syrische Expedition unter der Leitung von Marc Lebeau (Brüssel) und Antoine Suleiman von der Generaldirektion der Antiken und Museen in Damaskus. Ungewöhnlich ist das Konzept einer europäischen Komponente unter den meist nationalstaatlich getragenen archäologischen Expeditionen. Hier arbeiten das European Center for Upper Mesopotamian Studies (ECUMS, Brüssel) sowie Institute der Universitäten von Brüssel, Madrid und Murcia, Venedig und seit 2002 von München zusammen. Bis 2002 nahmen Altorientalisten der Katholischen Universität Leuven, bis 2000 der Universität Münster teil.

Walther Sallaberger vom Institut für Assyriologie und Hethitologie der LMU München ist dem Projekt seit 1994 als Philologe verbunden; damals von Leipzig aus in Kooperation mit den Münsteraner Kollegen. Seit 2002 ermöglicht die finanzielle Förderung der DFG eine erneute deutsche Beteiligung am Grabungsprojekt Tell Beydar, wobei die archäologische Verantwortung in den Händen von Alexander Pruß liegt.

Das Unternehmen wird von der Grundidee getragen, dass mehrere relativ kleine Teams gemeinsam eine größere Aufgabe bewältigen können. So kann man sich an die Aufgabe heranwagen, einen guten Teil der Stadt großflächig freizulegen. Die beteiligten Partner haben vereinbart, ihre Forschungen auf die Phase Beydar IIIb (etwa 24. Jahrhundert v.Chr.) zu konzentrieren. In dieser Phase war die Stadt letztmalig ganzflächig besiedelt. In der nachfolgenden Phase Beydar IV war, wie bereits erwähnt, das ganze regionale Siedlungssystem bereits in eine Krise geraten; nur noch das Stadtzentrum war bewohnt. Günstig wirkt sich auch aus, dass die Stadt der Phase Beydar IIIb offenbar recht plötzlich aufgegeben werden musste, denn so blieb ein guter Teil des Inventars an Ort und Stelle. Dass Unglück der ehemaligen Bewohner wird hier zum Glück der modernen Archäologen.

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Luftbild von Tell BeydarIn den bisher zwölf etwa zweimonatigen Grabungskampagnen konnte die Struktur der Stadt grundlegend geklärt werden. Tell Beydar wurde wie andere Orte Nordmesopotamiens im frühen 3. Jahrtausend gegründet. Den eigentlichen Tell, eine kreisförmige Anlage von ungefähr 350 Meter Durchmesser, umgibt in etwa 100 Meter Entfernung eine äußere ebenfalls kreisrunde Stadtmauer; der Raum dazwischen war offenbar nie besiedelt (Abbildung: Luftbild). Die Bezeichnung dieses Siedlungstyps als „Kranzhügel“ beschreibt das Aussehen ebenso wie der moderne arabische Name baidar, der von im Kreis gehenden Tieren gebildete „Dreschplatz“. Die äußere Stadtmauer wurde bereits früh (Phase Beydar II, ca. 26. Jahrhundert v. Chr.) aufgegeben und teilweise als Friedhof genutzt. Insgesamt sieben Unterbrechungen im äußeren Mauerring korrelieren mit sieben Einschnitten am Hügelrand. Wie die Grabung an einer Stelle bestätigt hat, handelt es sich hier um die Tore und Zugänge in das Stadtinnere. (Vergrößerung der Abbildung)

Akropolis Tell BeydarIn der Mitte an der höchsten Stelle der Stadt liegt das schon weitgehend freigelegte monumentale Zentrum. Dieser abgegrenzte Bereich mit Palast, vier Tempeln und Lagerräumen besaß offenbar nur einen einzigen repräsentativen Eingang von Süden: Eine monumentale Steintreppe führt an den Tempeln vorbei direkt zum Eingang des Palastes, der auf einer erhöhten Terrasse gelegen auch optisch das Zentrum der Stadt bildet. Erhalten sind von dem Palast vor allem Repräsentations- und Magazinräume. Der eigentliche Sitz der Verwaltung und die Wohnräume des Palastherren konnten nicht gefunden werden. Sie befanden sich vermutlich im Obergeschoss des Gebäudes, das durch einen fast vollständig erhaltenen Treppenaufgang ins Obergeschoss nachgewiesen ist. Gegen Süden schließen sich vier Gebäude an, die als Tempel (Tempel A–D) interpretiert werden. (Vergrößerung der Abbildung)

Das Stadtzentrum ist zumindest im Norden und Osten von einer Reihe von größeren Gebäuden umgeben, die weder Wohnzwecken noch der Repräsentation gedient haben. Handelt es sich um Werkstätten bzw. Lagerhäuser? Private Wohnhäuser sind bisher einzig im Norden der Stadt untersucht worden. Hier handelt es sich um nicht sehr regelmäßig angelegte Häuser mit je 3 bis 5 Räumen. Kleinere Zugangswege, oft Sackgassen, erschlossen dieses Viertel.

Ziel der Grabungen in den kommenden Jahren wird es sein, den bisher bekannten Stadtplan über das Stadtzentrum hinaus in die äußeren Bezirke zu erweitern, wo die meisten Einwohner gelebt haben müssen. Auch hier ist mit einzelnen ‚öffentlichen’ Bauten zu rechnen, wie ein großer Getreidespeicher belegt, der im Südosten der Stadt ausgegraben wurde.

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Keilschriftliche Urkunden

Tontafel aus Tell BeydarKaum ein anderer Grabungsort der Epoche wurde in jüngster Zeit so großflächig ergraben und bietet dabei einen differenzierten Befund mit offiziellem Zentrum und Privathäusern. Für Tell Beydar kommt eine weitere Quelle hinzu, die mit Keilschrift beschriebenen Tontafeln. 1993 und 1994 wurden jeweils etwa siebzig Tontafeln gefunden und mit den beinahe jährlich hinzugekommenen Texten liegen nun insgesamt über zweihundert schriftliche Zeugnisse vor; der einzige substanzielle Tafelfund aus der frühen Stadtkultur Nordmesopotamiens. Wie bei einem Archiv des 3. Jahrtausends zu erwarten, handelt es sich fast ausschließlich um administrative Urkunden, also Listen von Zahlen, Objekten und Namen, die bestimmte Bereiche der Wirtschaft des Ortes dokumentieren. (Vergrößerung der Abbildung)

Insgesamt bietet Tell Beydar also einzigartige Voraussetzungen, Fragen nach der Lebensweise der Stadtbewohner zu stellen, der sozialen Organisation, dem Verhältnis zum Machtzentrum. Dieser zentralen Fragestellung zur Sozialstruktur ist unser Münchner Projekt gewidmet, das vom archäologischen Befund ausgehend das Zeugnis der Schriftdokumente einbezieht. Archäologisch auszuwerten sind die architektonischen Strukturen der Gebäude (Zugänglichgkeit bzw. Abgeschlossenheit von Räumen; Größe von Raumeinheiten), darin befindliche Installationen (z.B. Feuerstellen, Vorratsgefäße, Abwasserkanäle) und das Inventar der Räume. Hierzu gehören neben Keramik auch kleine Tonfiguren in Tier- und Menschengestalt, die vermutlich bei magischen Praktiken verwendet wurden und damit einen kleinen Ausschnitt der antiken Gedankenwelt beleuchten. Das aus den archäologischen Quellen gewonnene Bild gibt vom tatsächlichen Leben in der antiken Stadt aber nur einen einseitigen Eindruck, da viele Aktivitäten in dem erhaltenen Befund keine Spuren hinterlassen haben.

Philologie und Archäologie im Dialog

Die Verwaltungsdokumente von Tell Beydar reflektieren ebenso wie die archäologischen Zeugnisse das alltägliche Leben der Bewohner, wenngleich auf völlig unterschiedlicher Ebene. Kaum je ergänzen sie sich einfach, sondern immer gilt es, die Konsequenzen philologischer bzw. archäologischer Ergebnisse für die jeweils andere Seite zu berücksichtigen.

Es ist zu hoffen, dass sich in dieser Weise weitere Einblicke in die faszinierende Gesellschaft der frühesten Städte Nordmesopotamiens ergeben, eine Hochkultur, die ohne direkten Reflex in der späteren Geschichte geblieben ist.

Der vorliegende Text beruht auf dem Artikel „Frühe Stadtgeschichte(n)“ erschienen in: Einsichten 2/2003.

Förderung: Deutsche Forschungsgemeinschaft
Förderzeitraum: 2002-2010


Projektleiter

Walther Sallaberger 

Mitarbeiter

Alexander Pruß